Wenn ich einen Bettler sehe
Da sind sie wieder,
die Männer, Frauen und Kinder,
auf Knien, den Pappbecher in der Hand.
Manche sitzen auf dem Boden
mit einem Schild aus Pappe oder einem Zettel vor sich.
Die einen mit flehendem Blick,
die anderen mit Blick nach unten.
Ausländer und Deutsche, Junge und Alte.
Sie suchen die Plätze, wo viele Menschen sind:
die Fußgängerzonen, die Kirchentüren, die Bahnhöfe.
Sie suchen das Mitleid, den glücklichen Augenblick,
die Stimmung eines Menschen, der sie nicht ignoriert
und aus irgendeiner Laune heraus ihnen etwas gibt.
Wenn ich sie sehe, bin ich oft genervt und verhärte mich innerlich.
Ich weiß: Sie sind Teil einer organisierten Bande, die sie benutzt,
um einen eigenen guten Lebensstil zu führen.
Soll ich mein Geld denen in die Hände werfen?
Ich weiß: Sie kriegen Schläge, wenn sie nichts für ihre Bandenchefs "einbringen".
Was kann ich daran ändern?
Ich weiß: Sie sind in ihrem Bereich professionell und gutes Betteln will gelernt sein.
Ich lasse mich doch nicht durch die erlernten Tricks ausnutzen!
Und trotzdem bleibt in mir ein ungutes Gefühl bestehen.
Das sind doch Menschen wie ich.
Wie sind sie dahin gekommen?
Wie fühlen sie sich angesichts der Ohnmacht, der Ablehnung und der Gewalt,
der sie täglich und auch nachts ausgeliefert sind?
Zweimal konnte ich eine Brücke bauen,
von Mensch zu Mensch
in diesem Teufelskreis.
Ich sehe an einem Frühlingsmorgen einen fröstelnden Obdachlosen neben seinem Fahrrad sitzen
und kaufe zwei coffee to go.
Ein anderes Mal habe ich mir drei Butterweck zur Pause gekauft
und sehe auf dem Weg ins Büro die alte Frau aus Osteuropa mit ihrem Becher da sitzen.
Ich nehme ein Butterweck heraus
und gebe ihr die Tüte mit den beiden anderen.
Ich gehe in die Hocke und schaue die Menschen an – auf Augenhöhe,
von Herz zu Herz,
von Hand zu Hand,
als Mensch, der die Würde eines anderen erkennt und handelt.
Das mache ich nicht immer. Aber manchmal. Und das ist gut!
(Volker Collinet, 2017)